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Indien - Mit dem Rad im Monsunregen

 

Ein großer Erdrutsch blockierte für mehrere Tage die einzig nennenswerte Verbindungsstraße nach Tripura und einigen anderen Bundesländern im äußersten Nordosten Indiens. Ungewöhnlich heftige Monsunregenfälle hatten einen ganzen Berghang einfach herunter gespült. Zu beiden Seiten stauten sich die Truckschlangen über viele Kilometer. Die Fahrer hatten sich längst mit dieser Situation abgefunden, doch wir wollten nicht warten. Über einen halsbrecherischen Pfad, der sich durch herabschießendes Wasser, glitschige Felsbrocken und heimtückischer, zu einer dünnen Suppe aufgeschwemmter Erde wand, wuchteten wir unsere Räder. Total verschlammt erreichten wir die andere Seite des Erdrutschs. Notdürftig wuschen wir uns in einem Bergbach. Unterdessen setzte die Dunkelheit, und mit ihr weitere Regenfälle ein, die auch unseren Pfad wieder unpassierbar machten.

 

Erschöpft radelten wir weiter, um irgendwo ein Dach über den Kopf zu finden. "Natürlich könnt ihr bei mir schlafen!", antwortete ein Ladenbesitzer auf Axels Frage. "Ich habe einen leeren Raum, wo ihr euch in Ruhe hinlegen könnt." Nachdem wir einige Säcke voll Pepperonischoten und anderer Gewürze weggeräumt hatten, fanden wir tatsächlich so etwas wie eine halbwegs ebene Fläche vor, auf der wir unser Nachtlager aufschlugen. Sämtliche Schlafvorbereitungen wurden von an die 40 Indern sorgfältigst überwacht, die außerdem die Fähigkeit besaßen, sich ständig genau im Weg aufzuhalten und dabei immer wieder die gleichen Fragen zu stellen: Woher? Wohin? Dabei hatte es sich längst im Dorf herumgesprochen, wer wir waren und was wir machten. "Wir sind müde vom Radfahren und wollen jetzt schlafen.", versuchte ich unsere interessierten Gäste zum Gehen zu bewegen. Ein völlig ergebnisloses Unterfangen. "Natürlich. Schließlich habt ihr euch ja durch den Erdrutsch geplagt. Aber woher kommt ihr eigentlich und wo wollt ihr hin?" Schließlich hatte unser Gastgeber Erbarmen mit uns und schaffte es auch irgendwie, alle unsere Gäste zum Gehen zu bewegen. Erschöpft löschten wir das Licht und schliefen ein. Doch nicht viel später hämmerte es gegen die Tür. "Ich möchte mich mit euch unterhalten oder schlaft ihr schon?" "Wir waren gerade eingeschlafen und wollen gerne weiterschlafen.", antwortete Axel. "Macht doch mal die Tür auf! Wo kommt ihr eigentlich her?" Mit unendlich viel Geduld ging aber auch dieser Kelch irgendwann an uns vorüber. So langsam dämmerte mir, dass es Dinge auf Reisen gibt, die ich nie habe kennenlernen wollen aber zu meinem Leidwesen doch erfahren musste. Ich wollte nie wissen, wie lange ich in solchen nächtlichen Dialogen die Balance zwischen Geduld und Höflichkeit auf der einen und dem blanken Wahnsinn auf der anderen Seite aushalte. Auch hatte mich nie wirklich interessiert, wie viele Inder ich auf aller engstem Raum aushalte ohne chlaustrophobisch zu reagieren.

 

Am nächsten Morgen hatte der Regen immer noch nicht aufgehört. Im Gegenteil, er hatte sich zu einem lang anhaltenden Platzregen entwickelt. Dank dem Erdrutsch blieb die Straße frei von hupenden und rußenden Trucks, doch so richtige Hochstimmung wollte sich bei mir nicht einstellen. Soviel Regen deprimiert mich immer. Auf die hiesigen Frauen schien er jedoch eine ganz andere Wirkung zu haben. Hier gibt leben die Menschen noch in einem Matriarchat. Deswegen sind die Frauen auch für indische Verhältnisse ungewöhnlich offen und kontaktfreudig. Sie lachten uns an: "Where are you coming from?" Unser Herkunftsland mußten wir dann ungefähr wie "Gehrmanie" aussprechen, um verständlich zu bleiben. Dennoch bereitete uns das indische Englisch immer wieder Schwierigkeiten. "Stop!" Diesen resoluten Ausruf hatten wir in Tripura laufend von den überall präsenten Melizen zu hören bekommen und dennoch nach Möglichkeit nie verstehen wollen. Falls wir doch anhielten folgten immer wieder die gleichen Fragen: woher, wohin usw. Eimal, als wir gleich von einem Schützenpanzerwagen angehalten wurden, mussten wir gar unsere Packtaschen auf Waffen durchsuchen lassen. Wir blieben nicht die einzigen, die gründlich durchsucht wurden. Auch die vor uns liegende Brücke wurde aufs Gründlichste nach versteckten Bomben kontrolliert. "In diesem Jahr hat meine Kompanie 21 Soldaten bei Kämpfen mit den Ureinwohnern verloren.", sagte uns der Kommandant. "Dazu kommen noch 5 Tote durch Malaria. Außerdem werden hier immer wieder Leute wegen Lösegeld gekidnappt. Die nächsten 30 Kilometer müsst ihr deshalb mit im Konvoi fahren. Das ist nämlich die gefährlichste Strecke auf dieser Straße." Also rasten wir, umgeben von Ruß- und Abgaswolken, die Trucks und Busse hinterließen, durch eine wunderschöne waldige Hügellandschaft. Vorbei an Dörfern der hiesigen Ureinwohner, terassenförmig angelegten Reisfeldern und einer Bambus schleppenden Elefantenmutti nebst ihrem Kleinen. Zeit zum Anhalten blieb uns nicht. "Fahrt schneller, ihr dürft nicht hinter dem Konvoi zurückbleiben!", trieben uns die Soldaten von ihren Panzerwagen aus an. Sie wollten uns gar zu gerne vor den ach so gefährlichen Leuten beschützen, mit denen wir eigentlich in Kontakt kommen wollten.

Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Einheimischen, die eher zu burmesischen als indischen Völkern gerechnet werden, wird von indischer Seite mit Gewalt und einer Bevölkerungspolitik, ähnlich der chinesischen in Tibet, bekämpft. Längst sind eingewanderte Inder und Bangladeshis in Triura in der Überzahl. Wegen der ständigen Kämpfe mit den Ureinwohnern war diese Region Indiens bisher für Touristen gesperrt. Dass wir jetzt hier entlang radeln konnten schien mir nur auf ein gewaltiges Versehen der Behörden zurück zu führen sein. Erst später ging mir auf, dass dieses Versehen bei uns lag. Denn die gesamte Gegend war keineswegs für Touristen geöffnet. Nur unserem resoluten Auftreten, wir glaubten uns ja im Recht, ist es zu verdanken, dass uns Polizeikontrollen weiterfahren ließen.

 

Weiter im Norden, im dicht besiedelten Assam, änderte sich nicht nur die Landschaft. Auch der Straßenverkehr war wieder genau so, wie ich ihn von Indien in Erinnerung hatte. Es war Kampf, nichts für weiche Gemüter! Und wie für jeden Kampf musste man sich dafür rüsten. Besonders als Radfahrer. Stahlharte Nerven gegen nicht minder harte Stoßfänger und Kühlergrills. Frisierte Lufthupen und finstere Abgaswolken bekommen auf Dauer wohl jedes Nervenkostüm klein. Doch drei Wochen wollten wir überstehen. Unsere einzige Verteidigung bestand darin, den Truck und Busfahrern deutlichst zu zeigen, dass sie uns frontal überfahren, wenn sie nicht augenblicklich scharf abbremsen. Dieser Trick funktioniert aber nur dann, wenn die Fahrer absolut keine Chance mehr sehen, sich mit ihren Fahrzeugen nicht doch noch irgendwie seitlich an uns vorbei quetschen zu können und wenn sie keine unfairen Mittel, wie defekte Bremsen, ausgeschlagene Lenkungen oder den berüchtigten Fahrstil einsetzen: Augen zu und durch! Das war Axel vor neun Jahren passiert, worauf er bei diesem Kampf nur zweiter Sieger wurde. Sein damaliges Rad blieb der totale Verlierer.

 

Entlang des Brahmaputra, dessen Hochwasser schon vor zwei Wochen etwas zurück gegangen war, erinnerte mich die Landschaft an eine Reisanbaugegend, die ich in Südindien schon einmal gesehen hatte. Der markanteste Unterschied bestand wohl darin, dass Shiva und Vishnu hier nicht mehr ganz so präsent sind. Ihre monströsen Tempel habe ich hier vergeblich gesucht. Auch die berüchtigten Bengaltieger und indischen Nashörner konnte ich nirgendwo finden. Sie sollen auch viel seltener sein. Aber immerhin gibt es für sie extra Naturschutzgebiete mit ausgedehnten Wäldern, in denen sich aber eher Holzfällerfirmen als irgendwelche Tiere wohlfühlen. Aber immerhin hatte uns der Monsunregen jetzt seit einer Woche verschont und in mir begann die Hoffnung zu reifen, dass er nun endlich vorüber war. Denn von Darjeeling aus, so hatte ich schon oft gehört, sollte man bei gutem Wetter den Kanchenjunga, den dritthöchsten Berg der Erde, sehen können.

Bis in die Hauptstadt des Tees lag nur noch ein Anstieg von über 2000 Metern vor uns. Bei strahlendem Sonnenschein gingen wir ihn an. Doch kaum erreichten wir die ersten Bergdörfer mit buddhistischen Gebetsfahnen und unglaublich steilen Teeplantagen, als auch schon eine dunkle Wolkenfront näher rückte. Kurz darauf schoben wir unsere Räder durch dichten Nebel und dann durch strömenden Regen. Durchnässt, erschöpft und durchgefroren erreichten wir Darjeeling, unser Ziel.

 

Wir hatten es geschafft.

 

Bei vorzüglichem Tee starrten wir zwei Tage lang auf das phantastische Panorama, was sich uns wegen des Dauerregens nicht zeigen wollte. Trotzdem konnten wir uns glücklich schätzen. Bei der Weiterreise nach Calcutta per Bahn und Bus sahen wir, was der Monsun alles angerichtet hatte: riesige Landstriche waren überflutet, Staudämme gebrochen, Straßen und Schienen fortgespült. Wir kamen zwar irgendwie noch durch, doch über 200 Busse wurden schlicht vermißt, teils waren sie einfach von der Straße gespült und von der Flut mitgerissen worden. Die Zahl der von der Flut betroffenen liegt allein in Indien bei weit über 10 Millionen. Über Tote und Obdachlose ließ sich nur spekulieren. Es war die schlimmste Flutkatastrophe seit über 30 Jahren. Angesichts dieses Elends kann ich mich wirklich nicht beklagen, den Kanchenjunga nicht gesehen zu haben.

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